Einleitung
Die Schritte sind beispielhaft zu verstehen. Sie können sie beliebig wiederholen und verändern. Jedoch beachten Sie, dass eine Geschichte immer an einem Ort spielt und es nicht selten Charaktere braucht, um sie lebendig zu gestalten.
Geschichten sind manchmal wahr und oft sind sie reine Fiktion. Bei dieser Übung ist es wichtig, dass Sie Ihrer Kreativität keine Grenzen setzen und sich nicht allzu sehr von Ihrem Wissen oder eigenen Erfahrungen beeinflussen lassen.
Springen Sie über Ihren eigenen Horizont und lassen Sie das Bekannte hinter sich!
Voraussetzungen
- Die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes einzulassen.
- Lust, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf eine Reise zu begeben
- Ein Notizbuch, ein Tablet oder irgendetwas anderes, auf dem Sie Ihre Gedanken festhalten können.
Schritt 1: Ein unbekannter Ort
- Begeben Sie sich an einen Ort, der für Sie erreichbar ist, an dem Sie jedoch noch nie zuvor gewesen sind. Es handelt sich um einen realen Ort, der aber im Moment verlassen ist. Niemand ist dort. Vielleicht war dort kürzlich jemand, vielleicht wird irgendwann wieder jemand auftauchen. Doch in diesem Augenblick sind Sie allein.
- Sie könnten in einen Bus oder einen Zug einsteigen und die Fahrt dort beenden, wo sie noch nie ausgestiegen sind. Der Ort muss nicht besonders spannend oder außergewöhnlich sein. Wichtig ist nur, dass er Ihnen fremd ist und keine persönliche Bedeutung für Sie hat. Entscheidend ist, dass Sie sich dort für eine Weile allein aufhalten können.
Ihre Aufgabe:
Beschreiben Sie diesen Ort mit allen Sinnen. Versuchen Sie, mehr zu erfassen als das, was sichtbar ist. Lassen Sie eine Atmosphäre entstehen, die sich nicht nur aus den äußeren Eindrücken speist, sondern auch aus dem, was der Ort in Ihnen auslöst.
Folgende Fragen können Sie dabei unterstützen:
- Was empfinden Sie in den ersten Momenten, in denen Sie bemerken, dass Sie allein sind?
- Welche Geräusche nehmen Sie wahr? Gibt es Klänge, die Sie erwarten oder gar vermissen?
- Wonach riecht die Luft? Gibt es dominante Gerüche oder etwas Unbestimmbares, das Sie nicht einordnen können?
- Wohin richtet sich Ihr Blick? Gibt es etwas, das Ihre Aufmerksamkeit fesselt?
- Welche Stimmung breitet sich in Ihnen aus, wenn Sie verweilen? Welche Emotion entsteht aus der Verbindung zwischen Ihnen und diesem Ort?
Sie haben den Sinn dieser Übung längst bemerkt. Oft beginnen Geschichten mit einer Ortsbeschreibung. Er kann romantisch, märchenhaft, düster oder verstörend wirken. In solchen Momenten erlebt der Leser dasselbe wie Sie jetzt: Er kennt diesen Ort nicht. Sie schreiben also aus einer Haltung des Entdeckens.
Zögern Sie nicht, sich treiben zu lassen. Es geht nicht um "richtig" oder "falsch", sondern um eine neue Erfahrung. Verwandeln Sie Beobachtung in Atmosphäre, Atmosphäre in Gefühl. Und wagen Sie es, ohne eine Erwartung zu schreiben.
Schritt 2: Ein Mensch
Ihre Reise geht weiter. Diesmal begeben Sie sich an einen Ort, an dem sich Menschen begegnen. Vielleicht ist es ein öffentlicher Platz, eine Straßenecke, ein Park oder ein Café. Es ist ein Ort, an dem gesprochen, geschwiegen, gelacht oder einfach nur beobachtet wird. Der Ort selbst ist in diesem Schritt nicht entscheidend. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Menschen.
Schauen Sie sich um. Bleibt Ihr Blick bei einer Ihnen unbekannten Person hängen? Vielleicht liegt es an einer Bewegung, an der Körperhaltung oder an einem Ausdruck im Gesicht. Wählen Sie genau diese Person aus. Beobachten Sie sie, ohne zu analysieren. Lassen Sie zu, dass aus dem bloßen Sehen eine Vorstellung entsteht.
Ihre Aufgabe:
- Erfinden Sie für diese Person eine Vergangenheit. Stellen Sie sich vor, wie ihre Kindheit ausgesehen haben könnte. Welche prägenden Erfahrungen hat sie gemacht? Welche Hindernisse musste sie auf dem Weg ins Erwachsenenleben überwinden?
- Beschreiben Sie die von Ihnen gewählte Person. Es kommt nicht auf Genauigkeit an, sondern auf die Besonderheit, die Ihren Blick angezogen hat. Was macht diesen Menschen einzigartig? Warum blieb gerade er oder sie in Ihrem Blickfeld?
- Geben Sie dieser Figur eine Eigenart, die jedem auffallen würde. Vielleicht kratzt sie sich ständig am Kinn, zupft an den Haaren, zieht nervös die Ärmel zurecht oder blinzelt unregelmäßig. Erfinden Sie eine Geste oder Angewohnheit, die ungewöhnlich ist, aber glaubhaft wirkt.
- Werden Sie nun emotional! Schenken Sie dieser Person einen inneren Konflikt. Stellen Sie sich eine persönliche Katastrophe vor, die ihr Leben grundlegend verändert hat. Vielleicht quält sie dieser Bruch bis heute. Auch wenn das grausam erscheinen mag: Je tiefer die innere Zerrissenheit, desto mehr erzählerisches Potenzial birgt Ihre Figur.
- Wiederholen Sie diese Aufgabe mit einer zweiten Person. Sie sollte völlig gegensätzlich zu Ihrer ersten Person sein.
Diese Übung schärft die Fähigkeit, Figuren zu erfinden, die nicht aus dem eigenen Leben stammen, sondern aus der puren Vorstellung wachsen. Sie lernen, sie von außen nach innen zu betrachten.
Vielleicht ahnen Sie es bereits: Die Figur, die Sie gerade erdacht haben, steht womöglich am Anfang einer großen inneren oder äußeren Reise. In der klassischen Form der Heldenreise beginnt jede Erzählung mit einer vertrauten Welt, die durch eine Störung oder ein Ereignis aus dem Gleichgewicht gerät. Ihre Figur trägt vielleicht noch die Spuren dieses Moments in sich oder sie befindet sich mitten im Übergang in eine neue, unbekannte Welt.
Schritt 3: Ein Ort und Menschen
Wenn Sie bis hierher einen Ort beschrieben und zwei Figuren entwickelt haben, dann haben Sie bereits etwas Großartiges geschaffen. Sie verfügen nun über das Fundament für eine Geschichte. Sie haben Raum und Handlungspotenzial vorbereitet. Jetzt beginnen Sie mit dem Erzählen Ihrer Geschichte.
Wählen Sie für sich ein Genre. Vielleicht ist es ein Krimi, eine Liebesgeschichte, ein Kammerspiel, eine Tragödie oder eine surreale Erzählung. Entscheiden Sie sich bewusst für eine Richtung.
Ihre Aufgabe:
- Die beiden Personen, die Sie beobachtet oder erfunden haben, treffen an dem Ort aufeinander, den Sie zuvor beschrieben haben. Lassen Sie dieses Aufeinandertreffen nicht zufällig erscheinen. Finden Sie einen nachvollziehbaren Grund, warum beide Figuren zur selben Zeit an diesem Ort sind.
- Entscheiden Sie, ob sich die beiden kennen oder ob sie sich zum ersten Mal begegnen. Beschreiben Sie, wie sich dieses Zusammentreffen gestaltet. Wie verhalten sich die beiden? Was bemerken sie aneinander? Was wird gesagt, und was bleibt unausgesprochen? Spannung entsteht oft aus Gegensätzen. Nutzen Sie die Unterschiede zwischen den Figuren, um ein Gespräch, eine Begegnung oder einen stillen Konflikt zu gestalten, der sich aus dem Moment ergibt.
- Lassen Sie nun eine der beiden Figuren etwas Unerwartetes tun. Es kann eine spontane Geste sein, eine impulsive Aussage, ein Verhalten, das nicht ins Bild passt. Reagiert die andere Person überrascht, verletzt, herausgefordert oder vielleicht sogar erleichtert? Gleichgültig, ob es zu einem Streit kommt, zu einer Annäherung oder zu einer verwirrenden Wendung – in diesem Moment beginnt es zu knistern.
Sie haben nun einen Ort erschaffen, zwei Menschen erfunden und einen Moment gestaltet, an dem sich ihre Wege kreuzen. Damit ist etwas entstanden, das weit mehr ist als eine Übung: ein erster Entwurf, ein erzählerischer Keim, aus dem eine Geschichte wächst.
Was Sie nun vor sich haben, ist der Anfang Ihrer phantastischen Reise. Ihre Figuren sind nicht zufällig dort, wo sie sind. Etwas hat sie dorthin geführt. Etwas steht ihnen bevor. Sie tragen einen inneren Konflikt in sich, und sie bewegen sich durch eine Welt, die sich verändern wird, sobald sie handeln.
Wenn Sie nun weiterschreiben möchten, lohnt sich vielleicht der Blick auf den erzählerischen Aufbau. Welche Entwicklung steht Ihren Hauptfiguren bevor? Wo liegen Wendepunkte, Widerstände, Entscheidungen? In der Übung 1: Die Drei-Akt-Struktur verstehen finden Sie eine einfache Methode, um Ihre Geschichte weiterzudenken und ihr eine tragende Form zu geben.
„Jede Geschichte beginnt mit einem Schritt ins Unbekannte."
Sie haben ihn gemacht und sind über Ihren Horizont gesprungen.“